Das Schlüsselwort Deepfake schafft es in erster Linie durch unangenehme Szenarien in unsere Wahrnehmung. In den Nachrichten zeigt man gerne Donald Trump oder Barack Obama, wie sie Aussagen tätigen, die digitalen Ebenbildern in den Mund gelegt werden. So schürt man die Angst davor, durch diese neue Technologie die Masse und Meinungen manipulieren zu können. Sicher, Deepfakes bieten dahingehend einen gewissen Anlass zur Sorge. Doch gerade im Handel könnte diese Cloud-Technologie neue Möglichkeiten aufmachen und Pain Points angehen.
2019 kann dabei als wichtiger Meilenstein festgehalten werden. Ein Jahr vorher feierte das iPhone X sein Release und stellte eine Entwicklung in den Vordergrund: Augmented Reality. Mit der TrueDepth Kamera war es auf einmal möglich, die Realität zu vermessen, weil Größenverhältnisse und Abstände wahrgenommen werden konnten. Einige Entwickler stürzten sich auf diese Möglichkeit und entwarfen direkt Apps, die mit diesem Feature kleine Revolutionen auslösten. Eines der ersten Unternehmen mit einer entsprechenden App war das amerikanische Brillenunternehmen Warby Parker. Schon lange am Puls der Zeit, hatte WB das „Try at home“ Modell perfektioniert, mit dem der Kunde fünf Brillen bestellen und einen Monat zur Probe tragen konnte. Am Ende des Monats konnte er sich dann für eines oder mehrere der Modelle entscheiden, bezahlte das und schickte den Rest zurück.
Mit der neuen Warby Parker iPhone App war es im April 2019 dann aber plötzlich möglich, dass die Kamera des iPhones das Gesicht des Kunden vermaß und in der App darstellte, wie welche Brille auf seinem Gesicht sitzen würde. Nicht mehr krude, wie wir das aus alten Webcam-Experimenten oder von Snapchat Filtern kannten, sondern haargenau. Auf einmal war klar: Zuhause oder unterwegs zuverlässig anprobieren ist machbar.
Deepfake Lösungen gehen dabei einen Schritt weiter. Sie projizieren nicht ein Accessoire auf das Gesicht des Kunden, sondern die Äußerlichkeiten des Kunden auf ein bestehendes Video. Dafür wird das Äußere des Kunden vermessen und abfotografiert, damit ein Algorithmus dann all diese Daten zuverlässig auf ein Video übertragen kann. So kann die Vision Wirklichkeit werden, dass Kunden selbst an Fashion Shows teilnehmen, indem ihr Äußeres auf die Videoaufnahmen der Models übertragen wird, die in der Kleidung über den Laufsteg spazieren.
Die Fallhöhe bei dieser Herangehensweise ist natürlich offensichtlich: Hautton und Gesicht mögen noch glaubhaft auf Models übertragen werden können, doch bei den anderen Proportionen wird es schwer. Superpersonal, ein Unternehmen, das Deepfake bereits für Modeschauen und E-Commerce Anwendungen anbietet, zeigt auf seiner Website sehr gut diese beschriebenen Vor- und Nachteile.
Trotz dessen sehen wir gerade in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte eine enorme Chance, die Deepfake und AR dem Handel eröffnen kann. Unter dem Megatrend Neo-Ökologie und dem Schlagwort Nachhaltigkeit wird immer stärker das „Return“ E-Commerce Modell kritisiert. Mehrere Produkte zu bestellen und nur zu behalten was man wirklich will, oder Abo-Services wie Outfittery, wo dem Kunden vermutlich passende Kleidung zugeschickt wird, von der er den Rest zurückschickt, werden in der kommenden Zeit unter stärkeren Druck geraten. Unnötige Logistik und Berge an Verpackungen sind nicht zukunftsträchtig. Dem kommt die Anprobe per digitalen Gadgets sehr entgegen. Auch wenn es aktuell noch nicht perfekt funktioniert, steckt die grundlegende Technik bereits in vielen Hosentaschen.
In diesem Fall ist der Megatrend Konnektivität, der mit 24/7 on Mentalität und One-Click-E-Commerce zur Nachhaltigkeitsdebatte beigetragen hat, einige Jahre später auch wieder eine potenzielle Lösung für das hausgemachte Problem. Datenschutzproblematiken, die aus dem Versand so vieler echter körperlicher Daten noch erwachsen können, werden bisher auch noch nicht angesprochen, aber die Möglichkeiten, die sich durch die Ansammlung solcher Massen an Big Data ergeben sind auch nicht zu unterschätzen.
Zusammenfassung: Im Gegensatz zur Politik sollte der Handel das Thema Deepfake nicht fürchten. Stattdessen lohnt es sich mit offenen Augen dem Trend zur digitalen Anprobe in seinen diversen Ausformungen zu folgen. Ob per AR, wobei Objekte live auf dem Bildschirm auf den Kunden projiziert werden, oder per Deepfake, wobei die körperlichen Merkmale des Kunden auf ein Video projiziert werden.
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